Die Wärterin 2020

ZEIGEN UND VERBERGEN

 

Seit Anfang der 1990er Jahre hat Paul Schwer sein ursprünglich rein malerisches Werk Schritt für Schritt konsequent verräumlicht und als jeweils situationsbezogene, installative Setzungen angelegt, in denen Farbe, Licht und Industriematerialien wie Plexiglas, Neonröhren und Folien eine zentrale Rolle spielen. Dabei reflektieren diese Materialien auch Schwers Erfahrung großer Metropolen, beispielsweise Shanghai, London und Istanbul, in denen er vielfach gearbeitet hat. Diese Mega-Cities sind für ihn nicht zuletzt Chiffren einer urbanistischen Realität, die von steten und oft disruptivem Wandel und zudem von synästhetischer Gleichzeitigkeit heterogenster Eindrücke geprägt ist. Auch deswegen gibt es in all seinen Arbeiten nicht nur eine deutliche Tendenz zur Auflösung eines verbindlichen Betrachterstandpunktes, sondern auch ein klares Bekenntnis zu Dynamisierung und zur permanenten Veränderbarkeit des Gezeigten. In diesem Werk ist nichts stabil und alles durchdrungen von der Erfahrung des Passageren, des Wandels, des Übergangs. Das von Schwer vornehmlich verwendete transparente Plexiglas ist für den Künstler denn auch vor allem Ausgangspunkt für eine fortlaufende Verformung. Durch die Erhitzung des Materials wird der feste Kunststoff an den Rand der Verflüssigung gebracht und in verschlungene Raumkörper verwandelt, die mit ihren ausgreifenden Schwüngen und Durchblicken zugleich als malerische wie auch als plastische Gesten interpretiert werden können. Zugleich artikuliert sich in der farbigen Transparenz des Materials eine unauflösliche wechselseitige Durchdringung von Bildraum und Realraum, gewissermaßen eine Verschmelzung von Welt und Bild.

 

Für den Lichtparcours 2020 in Braunschweig hat Paul Schwer nun seine systematische Untersuchung des Raumes zwischen Bild und Körper und zwischen Werk und Welt fortgesetzt und diese auf eine hochinteressante städtebauliche Konfiguration in Braunschweig fokussiert. Thema seiner Arbeit ist das ehemalige, seit den 1970er Jahren unzugängliche Toilettenhäuschen an der Steintorbrücke, dessen geschwungene Fassade die historisierende Fassade des Photomuseums und des Herzog Anton Ulrich-Museums miteinander verbindet. Der Künstler verdoppelt die Frontseite des Toilettenhäuschens mit Hilfe transparenter, pinkfarben bemalter Kunststoffplatten, die sich über einen von mehreren Stützen getragenen Stahlrahmen über dem Gebäude wölben. Darunter können zwei Podeste aus Betonplatten als Sitzgelegenheiten genutzt werden. Wahlweise wirkt diese in den Luftraum gespiegelte und bei Dunkelheit beleuchtete Fassade dabei wie ein im Wind geblähtes Segel, durch das die immobile Architektur in Bewegung gesetzt werden könnte, oder wie ein Baldachin, der die profane Funktion des Gebäudes mit seinem rosigen Anstrich und seiner großen installativen Geste ironisch überhöht.

 

Ein weiteres Element der Arbeit stellt das ehemalige Toilettenhäuschen selbst dar, das von dem österreichischen Klangkünstler Franz Pomassl mit einer kantig-metallischen Soundarbeit bespielt wird, die sich aus den unterschiedlichen Materialien der Schwer´schen Installation speist. Durch die Fensterreihe des nicht betretbaren Raums sieht der Besucher einen Kühlschrank mit Glasstellagen, auf denen sich farbige Flüssigkeiten in Flaschen und Gläsern befinden, die durch den Sound zum Vibrieren gebracht werden. Eine zusätzliche, teilweise mit der Soundarbeit interagierende rhythmische Lichtprogrammierung verwandelt den Raum in einen virtuellen Club, der auf Besucher wartet. Mit diesem Eingriff reflektiert Schwer zum einen wiederum die zentralen Konstituenten seines Bildbegriffs: Farbe, Licht, Raum und Material. Zum anderen nimmt er damit Bezug auf Aktenmaterial aus dem Stadtarchiv, aus dem hervorgeht, dass die Wärterin des Toilettenhäuschens in einem zwischen den Männer- und Damentoiletten gelegenem Raum selbst einen Verkaufsstand, mutmaßlich mit Hygieneartikeln unterhalten hatte.

Der Titel der gesamten Arbeit „Die Wärterin“ macht deutlich, dass Schwer hier auf mehr zielt, als auf einen architekturhistorischen, beziehungsweise -kritischen Kommentar. Mit seiner Intervention rückt der Künstler vielmehr auch die Situation dieser unter prekären Bedingungen arbeitenden Frau in den Blick, die ihr bescheidenes Einkommen durch den zusätzlich eingerichteten Verkaufsstand aufbesserte. Paul Schwers pinkfarben segelnder Baldachin über dem Toilettenhäuschen ist so gesehen auch und wesentlich die exemplarische Sichtbarmachung einer spezifischen und fast nur von Frauen bewältigten Arbeitssituation, die gemeinhin unsichtbar war und unsichtbar bleiben sollte. In bewusster Umkehrung der städtebaulichen Hierarchisierung, rücken nicht die Steintorbrücke als Stadttor mit den beiden Torhäusern, oder die herrschaftlichen Museen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern ausgerechnet das „stille Örtchen“, also ein Raum, der – gerade weil er auf elementare menschliche Bedürfnisse zielt- selbst im Grunde meist schamhaft verschwiegen wird.

 

Damit öffnet der Künstler den Blick für eine verblüffende Dialektik zwischen dem vermeintlich Repräsentativen und dem Nicht-Vorzeigbaren. So lässt sich die Toilette als der antirepräsentative Ort schlechthin interpretieren, an wir ganz auf unsere Physis und elementare, nur begrenzt kontrollierbare Bedürfnisse zurückgeworfen sind. Im Gegensatz dazu zielt im Museum alles auf den Akt des Präsentierens und Repräsentierens, was gleichermaßen für die Exponate, wie auch für die Besucher*innen gilt. Zeigen und Verbergen bestimmen also zum einen das dialektische Verhältnis zwischen Toilettenanlage und dem Raum der Museen. Und die weitergehende dialektische Parallele bestünde darin, dass Museen als Orte des ewigen Bewahrens im Grunde eine permanente, unumkehrbare Einverleibungsstrategie betreiben, während auf den Toiletten die permanente Entleerung betrieben wird, die ihrerseits wieder die Voraussetzung für eine weitere Aufnahme schafft. Im künstlerischen Blick Paul Schwers rücken die beiden Orte auf eine paradoxe Art nah aneinander. In der Sichtbarmachung und buchstäblichen Überhöhung des Toilettenhäuschens wird der physische Akt der Ausscheidung des bereits Verdauten zur Entsprechung für den geistigen Akt der Aufnahme von Bildungsgut, der im benachbarten Museum erfolgt. –

Stephan Berg