RUPPIGE SCHÖNHEIT

Von Stephan Berg

Seit fast 20 Jahren arbeitet Paul Schwer im erweiterten Feld der zu Unrecht immer wieder totgesagten Königsdisziplin der Kunst: der Malerei. In der Intensität, mit der der Künstler das tut, kann man das vielleicht nur, wenn man sich an die Materie herantasten, sie sich erobern muss, sie sozusagen nicht von Anfang an intus hat. Schwer, ursprünglich Mediziner, begann erst spät sein Kunststudium – und dies nicht etwa bei einem Maler, sondern bezeichnenderweise bei dem Bildhauer Erwin Heerich. Man könnte auch sagen: Sein Weg zur Malerei erfolgte sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge. Und das mit dem Auge ist wörtlich zu nehmen. Denn es geht bei Schwer in seinen malereibezogenen Konzepten stets um retinale Momente der Wahrnehmung. Und um Umwandlung dieser Wahrnehmungsmomente in bildnerische Konstellationen, in denen sich die Flüchtigkeit dieser Wahrnehmung manifestiert.

Man könnte auch sagen: Paul Schwers malerischer Ansatz will festhalten, dass nichts festgehalten werden kann, dass alles vorbeifließt, alles einer momenthaften Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit unterworfen ist.

Den Ausgangspunkt für seine ab Ende der 80er Jahre entstehende Malerei bilden stets konkrete, gegenständliche Motive: zum Beispiel Pilze, Steine, Schmetterlinge. Aber schon hier praktiziert der Künstler eine Verwandlung des Bildgegenstandes in eine durchscheinende, wie verwischt wirkende Farbkonstellation, bei der das Motiv seine substanzielle Festigkeit fast vollständig verliert. Anfang der 90er Jahre erfolgt dann die erste Erweiterung des Bildes in den Raum hinein, in Form großer Farbbahnen, die von der Decke hängend kubische Räume formen.

Mit diesem Bedürfnis, das Bild von der Leinwand, der Fläche, der Wand zu lösen, und zu einer räumlich erlebbaren, begehbaren Erfahrung zu machen (das Bild also gewissermaßen welthaltiger zu machen), ordnet sich Paul Schwer in eine Entwicklungslinie ein, die von Frank Stella bis hin zu Jessica Stockholder, Leni Hoffmann oder Franz Ackermann reicht – ohne dabei den Einfluss der Heroldschen Dachlatten zu vergessen – und findet dabei seinen ganz eigenen Weg.

In seinem Konzept kreist alles um die Verzahnung von Farbe, Licht, Raum und Bewegung. Und mit großem, fast möchte man sagen, diebischen Vergnügen arbeitet Paul Schwer daran, aus diesen Elementen Konstellationen zu entwickeln, die in sich von höchster Ambivalenz sind: Dies zeigt auch seine Ausstellung in der Galerie Heinz Holtmann in Köln, die aus zwei Polen besteht, in denen sich Innen und Außen auf komplexe Art miteinander verbinden. Vor der Galerie, parallel zum Rheinufer, installiert der Künstler sein bereits auf der Kölner Kunstmesse und dem Ludwig Museum in Koblenz erprobtes „Bautafel-Painting“ (2008), eine mit farbigen Neonröhren hinterleuchtete Konstruktion aus Baugerüst und grün, bzw. rot bemalten Plexiglasplatten. Die sichtbare Rohheit der Gerüstkonstruktion verstärkt den ambulanten Charakter der Installation, die andererseits durch das intensive Leuchten der farbigen Plexischeiben auch am Glamour glitzernder Werbescreens partizipiert. Die Elektrifizierung, der Paul Schwer diese Malerei-Installation aussetzt, verweist auf ein wiederkehrendes Prinzip in seinem OEuvre: Stets ist die Schönheit dieser Bildräume eine temporäre. Und oft stammt ihr Strahlen und Leuchten aus der Steckdose und metaphorisiert damit eine Malerei, die unter Strom steht, sozusagen energetisch glüht, aber eben auch nüchtern und illusionslos verlischt, sobald man den Stecker zieht.

Insgesamt verwandelt die Arbeit die gesamte urbane Situation in eine Zone von hoher Ambivalenz: Als Gerüst versperrt sie einerseits den Durchgang zumindest symbolisch und erscheint damit als Barriere, die andererseits mit ihren Neonleuchten und den klaren Signalfarben auch durchlässig und suggestiv-anziehend wirkt. Dieser Ambivalenz-Charakter drückt sich auch in den verwendeten Ampelfarben rot und grün aus, die metaphorisch den Moment des Anhaltens und Gehens visualisieren. Bezogen auf den Titel der Ausstellung „ORANGE DISTRICT“ erzeugt Paul Schwer durch sein Bautafel-Painting einen Sperrbezirk, in dem die Lichter immer auf Orange stehen. In der Ampelmetapher gesprochen ist das die Farbe, die den Schwebezustand zwischen Gehen und Stehen, zwischen Entwicklung und Stillstand bezeichnet. Diese Arbeit nimmt in den Innenräumen der Galerie Bezug zu einer sperrigen Dachlatten-Leuchtstoffkonstruktion auf, deren in das Lattengerüst eingebaute Plastik-Tamtamhocker eine ironische Referenz zu Brancusis endloser Säule bilden. Verschiedene farbig bemalte Plexiglasknäuel auf dem Boden ( so genannte Baozis), sowie neue, bildbezogene Arbeiten runden das Spektrum ab.

Deutlich zeigt auch diese Ausstellung das Prinzip der Kontrastierung, einer gewissermaßen paradoxen Ambivalenz als zentrales Strukturmerkmal dieser Kunst. Alles, was wir sehen, ist sowohl roh, spröde, gebastelt und dabei doch immer auch auf eine beinahe emphatische Art auratisch, leuchtend schön. Weitgehend stammen die Materialien aus einem technischen, industriellen Zusammenhang (Stellagen, Leuchtstoffröhren, Plexiglas, Polystyrol-Hartschaum), dessen Inszenierung aber eine fast poetische Beschwingtheit und Weichheit atmet, und sich zudem immer zwischen den Polen konstruktiver Statik und rasanter Dynamik bewegt. Nur an wenigen Stellen spielt reale Malerei noch die Hauptrolle, und doch ist alles in diesem Universum in hohem Maße malerisch angelegt. Was sich uns zeigt, ist sozusagen die Erzeugung der Malerei aus dem Nichtgemalten. Beispielsweise indem Paul Schwer Neonröhren wie Pinselstriche setzt. So provisorisch,und passager, fast nonchalant, wie das Ganze daherkommt, ist es doch immer unbestreitbar für den jeweiligen Anlass finalisiert, sozusagen – um mit Hegel zu sprechen – perfekt in seiner ewigen Imperfektibilität. Das gesamte Werk ist immer zugleich körperlich und ephemer: Ein konstruktives Skelett, das auf durchsichtige und durchscheinende Materialien trifft, und sich dabei zu einem allansichtigen Gesamtzusammenhang fügt, in dem innen und außen, oben und unten ineinander verschwimmen und sich alles in eine kippende, schräge, gefährdete, gleitende Bewegung auflöst.

Grundsätzlich schützt Schwer seine Farbraumbilder vor parfümiert riechender kulinarischer Eleganz durch die sorgfältige Ruppigkeit, mit der er vorgeht, also letztlich durch ein kalkuliertes Bricolage-Prinzip, das alle Nahtstellen sichtbar lässt, und – unter Vermeidung jeglicher Tricks oder Effekthascherei – die Machart der Arbeiten immer direkt vorführt.

Wichtig ist diesem Werk die Gleichzeitigkeit der Erzeugung und Dekonstruktion von Bildaura: Das Zugleich von Erhitzung und Abkühlung. Das beste Beispiel dafür hat Schwer mit der performativen Werkidee BLAST verwirklicht, bei der Glasplatten unterschiedlicher Dicke mit Pigmentfarbe und Buttermilch bestrichen, direkt auf brennende 500 Watt-Baustrahler gelegt, und dadurch in unterschiedlichen Zeitintervallen zum Platzen gebracht wurden. Buchstäblich erleben wir hier das heiße Bild: Aber die Hitze entsteht durch Baustrahler, nicht durch ästhetische Beseelung, durch malerische Empathie.

Der Knall der zerplatzenden Scheiben verweist aber nicht nur auf das zerbrochene Bild, das beispielsweise eine Ausstellung wie „Der zerbrochene Spiegel“ zum Anlass für eine Neubefragung des Mediums genommen hatte, sondern auch darauf, dass der zerbrochene Zusammenhang neue bildnerische Möglichkeiten erzeugen kann, dass auch die übrig gebliebenen Splitter nicht nur auf „den Verlust der Mitte“ verweisen, sondern selbst eine neue, vom Rand her gedachte eigene Mitte formulieren. Wichtig ist an dieser Arbeit aber auch die performative Komponente und das körperliche Moment dieser Aktionen: Das Bild knallt, es kommt auf uns zu als potenziell gefährliches Material, es heizt uns ein, verhindert kontemplative Meditation und klare, distanzierte Betrachter-Verhältnisse.

Ein weiteres Beispiel für das Zugleich von Konstruktion und Dekonstruktion stellen die „Baozis“ dar, wie Paul Schwer, in Anspielung auf den chinesischen Begriff für gedämpfte Teigtaschen, seine aus erhitzten Plexiglasplatten (bzw. PET G Platten) geformten und mit Acrylfarbe und Pigmenten bemalten Bodenskulpturen nennt. In der Werkgruppe der „Baozis“ wird das Bild nicht nur metaphorisch, sondern im wörtlichen Sinne zerknüllt, und entsteht durch diesen Akt des kalkulierten Ikonoklasmus neu als ein Körper, der doch auch immer Bild bleibt – sich aber nun den Traum eines jeden Bildes erfüllt hat, nämlich den, selbst Raum und Volumen nicht nur abzubilden, sondern zu bilden. Ganz nebenbei ergibt sich dadurch eine wunderbare Verschmelzung von Inhalt und Oberfläche, weil jeder dieser zerknäulten Bildkörper sowohl reines Innen, wie auch reines Außen ist.

Kunsthistorisch gesehen bildet vor allem der Barock einen der wichtigen Referenzpunkte, ohne den diese künstlerische Arbeit nicht möglich wäre: Fassbar wird er schon in den an barocke Faltenwürfe gemahnenden Schlaufen und Schleifen der „Baozis“. Deutlicher noch drückt er sich in der fast durchgehend theatralen Bühnenbildatmosphäre der Arbeiten aus, die mit der barocken Vorstellung von der Welt als Bildwelttheater in Verbindung gebracht werden kann. Darüber hinaus ist aber auch die erkennbare Sehnsucht dieses Werks, den statischen Raum aufzulösen und in einen entgrenzten Raumwirbel zu verwandeln, durchaus in einer systematischen Nähe zu den Raumtheorien des Barock zu sehen. Ebenso wichtig als grundierendes Werkelement ist aber mit Sicherheit die Erfahrung der großen urbanen Welt-Metropolen. In erster Linie ist hier Shanghai zu nennen, wo sich Paul Schwer in den letzten Jahren mehrfach länger aufgehalten hat, und dabei die Stadt nicht nur als synästhetischen Rausch erlebte, sondern vor allem als Katalysator eines permanenten Wandels, eines dauernden Zugleichs von Zerstörung und Neuschaffung, das schockhaft deutlich das Provisorische auch des vermeintlich Festgefügten zeigte. In diesem Sinne erleben wir im Werk Paul Schwers die Kunst eines Mannes, der an einem Bildprogramm der Momenthaftigkeit arbeitet, an einem Anti-Ewigkeits-Programm.

Mag schon sein, dass alle Lust Ewigkeit will, diese Bilder und Bildräume aber feiern die Flüchtigkeit: roh und brachial, kippend und schräg, provisorisch und ewig imperfekt. Darin liegt ihre Schönheit und ihre Dauer.